Wiengarn, Jörn (2023). Die Grammatik des Vertrauens: Eine Untersuchung in interpersoneller und epistemischer Hinsicht. PhD thesis, Universität zu Köln.

[img] PDF
Promotion_Wiengarn_Erstveröffentlichung.pdf

Download (3MB)

Abstract

Die Arbeit untersucht den Begriff interpersonellen Vertrauens mit Fokus auf die begriffliche Beziehung seiner interpersonellen und epistemischen Seite. Diese Klärung wird mit Bezug auf die aktuelle philosophische Vertrauensdiskussion, aber auch mit Bezug auf die begrifflichen Angebote in der soziologischen Vertrauenstheorie (etwa der Spieltheorie), vorgenommen. Methodisch folgt die Arbeit wesentlichen Grundideen der sogenannten Philosophie der gewöhnlichen Sprache, die sich zur konzeptionellen Klärung eines Terminus die Rekonstruktion eines vortheoretischen begrifflichen Verständnisses vornimmt. Dies geschieht unter systematischem Bezug auf lebensweltliche Beispiele zur Erprobung der Plausibilität der begrifflichen Klärungsvorschläge. Im Zentrum des ersten Teils steht die begrifflich zu verstehende Frage danach, was es eigentlich heißt jemandem zu vertrauen. In einem ersten Schritt wird dabei in Auseinandersetzung mit dem spieltheoretischen Vertrauensbegriff gezeigt, dass Vertrauen mehr als ein bloße epistemische Erwartung ausmacht. Entsprechend folgt die aktuelle philosophische Forschungsliteratur auch der Idee, dass Vertrauen im interpersonellen Sinne von einem sogenannten bloßen Sich-Verlassen abzugrenzen ist. Letzteres bezeichnet dabei eine bloß prognostische Erwartung bezüglich des Verhaltens einer anderen Person, das zum Erreichen praktischer Zwecke strategisch erwogen werden kann. Demgegenüber lassen sich zwei verbreitete Ideen identifizieren, was das Spezifische interpersonellen Vertrauens ausmache. Ein Teil der Literatur hebt hervor, dass sich Vertrauen durch seinen normativen Charakter auszeichne. Insofern man einer Person vertraut, richtet man eine normative Erwartung an diese, das Vertrauen nicht zu brechen. Vertrauen kann grundsätzlich verletzt werden, wohingegen man sich im Sich-Verlassen-auf lediglich verkalkulieren kann. Eine zweite Idee besagt, dass man sich im Vertrauen wesentlich auf die Vertrauenswürdigkeit der anderen Person bezieht. Diese stelle jedoch eben keine bloß verlässlichen Verhaltensmuster, sondern eine moralisch ausgezeichnete Charakterqualität dar. Beide Ideen zusammengenommen bilden das, was in der Arbeit die Standardtheorie interpersonellen Vertrauens genannt wird. Diese ist in verschieden ausbuchstabierten Spielarten in der Vertrauensliteratur zu finden. Wie nachgewiesen wird, ist diese jedoch nicht hinreichend, um einen plausiblen Begriff interpersonellen Vertrauens zu beschreiben. Eine normative Erwartung macht immerhin insofern noch kein Vertrauen aus, als auch die eigentlich Misstrauische eine vergleichbare normative Erwartung an den Vertrauenspartner haben kann. Auch der hervorgehobene Bezug auf die Vertrauenswürdigkeit bedarf noch einer theoretischen Spezifizierung. Schließlich kann man sich auch in rein sozialkalkulativer Absicht auf die Vertrauenswürdigkeit einer Person beziehen, dies würde jedoch einer genuin vertrauenden Haltung gerade entgegenstehen (Problem der Sozialkalkulation). Die alternative, in der Arbeit unterbreitete These, besagt, dass Vertrauen wesentlich als personale Anerkennung zu verstehen ist. Anerkennung besteht dabei in der Zuschreibung eines normativen Status. Die These besagt, dass man im Vertrauen einer normativen Erwartung des Vertrauenspartners entgegenkommt, namentlich der Erwartung als vertrauenswürdig angesehen zu werden. Hier wird die Idee ins Zentrum gestellt, dass Vertrauen unter passenden Umständen verdient sein kann. Im Vertrauen hat man es insofern stets mit wechselseitigen normativen Erwartungen und einem entsprechend wechselseitigen Anerkennungsverhältnis zwischen Personen zu tun. Diese These verspricht nicht nur die genannten Probleme der Standardtheorie zu überwinden, sondern vermag darüber hinaus einige weitere phänomenale Besonderheiten interpersonellen Vertrauens zu erklären, so etwa dessen konstitutive Bedeutung für intime Beziehungsformen und die Qualität emotionaler Reaktionen im Falle der Verweigerung von Vertrauen. Im Verlauf dieses Argumentationsganges nimmt die Arbeit en passant noch einige weitere Betrachtungen vor: So wird auch eine axiologische Untersuchung von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit und die übliche Rede über einen (intrinsischen) Wert derselben eingeordnet. Darüber hinaus macht die Arbeit die These stark, dass Vertrauen immer schon in einen vorgängigen normativen Kontext eingebettet ist. Zuletzt wird in diesem ersten Teil auch eine Klärung des Begriffes der Vertrauenswürdigkeit vorgenommen. Die Arbeit argumentiert hier für eine tugendtheoretische Auffassung und insbesondere gegen die übliche Sichtweise, dass Kompetenz als solche ein konstitutives Element von Vertrauenswürdigkeit darstelle. Der zweite Teil widmet sich der epistemischen Seite von Vertrauen. In einem ersten Schritt wird argumentiert, dass Vertrauen auch kognitiv ist, d.h. eine epistemische Überzeugung impliziert, namentlich die Überzeugung, dass der Vertrauenspartner vertrauenswürdig ist. Daran schließt die Idee an, dass Vertrauen dem Anspruch nach stets auf epistemischen Gründen beruht. Man vertraut demnach niemals vollkommen „blind“, sondern zumindest dem Anspruch nach nicht vollkommen losgelöst von Gründen, die für die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauenspartners sprechen. Das genaue Verhältnis von Vertrauen und seinen epistemischen Gründen ist aber verwickelt. Da hier in der Diskussion des begründungstheoretischen Status von Vertrauen die Gefahr besteht einige Punkte durcheinanderzubringen, schlägt die Arbeit vor, folgende Ebenen zu unterscheiden: Erstens ist festzuhalten, dass Vertrauen in einem trivial-begrifflichen Sinne mit dem ernsthaften Erwägen von Gründen für dieses nicht im Einklang zu bringen ist. Insofern man nämlich vertraut, zweifelt man nämlich schlichtweg nicht – denn genau das heißt es ja eben zu vertrauen. Dieser Punkt schließt wohlgemerkt nicht aus, dass Vertrauen Überlegungen vorausgehen, oder dass Vertrauen kritisch hinterfragt werden kann. Er besagt lediglich, dass insofern man dies tut, man gerade nicht vertraut. Davon abzugrenzen ist zweitens jedoch eine andere Eigenschaft des epistemischen Status von Vertrauen: Wie einige Autor*innen hervorheben, scheint Vertrauen paradigmatisch eine habitualisierte Einstellung darzustellen, weshalb wir etwa bei zögerlichem oder wiederholt hinterfragtem Vertrauen dazu neigen würden zu sagen, dass hier kein wirkliches Vertrauen vorliege. Diese Idee wird in der Arbeit aufgegriffen und in einer praxistheoretisch inspirierten Deutung rekonstruiert. Drittens gibt es aber auch ein Problem, das sich speziell aus den Theoretisierungsanstrengungen über Vertrauen ergibt. Demnach weist die Forschungsliteratur die Tendenz auf, den Unterschied zwischen Vertrauen und bloßem Sich-Verlassen dichotom zu denken. Dadurch entsteht das theoriebezogene Rätsel, wie Vertrauen, wenn es eben kein Sich-Verlassen darstellt, nicht einfach blind vollzogen werden kann. In Reaktion auf dieses Problem wird in der Arbeit (in Abgrenzung zu anderen Lösungsansätzen) der Gedanke entwickelt, dass sich Vertrauen als Anerkennung der eigenen Logik nach bereits auf epistemische Gründe bezieht. Der anerkennende Charakter von Vertrauen kommt gerade dadurch zur Geltung, dass das Vertrauen nicht epistemisch radikal willkürlich ist, sondern dadurch, dass der Vertrauende einsieht, dass das Vertrauen gegenüber der anderen Person verdient ist. Diese These wird anhand einer Reihe von Überlegungen verfolgt und argumentativ bekräftigt. Letztendlich schlägt die Arbeit damit eine These vor, wie die interpersonelle und die epistemische Seite von Vertrauen versöhnt werden können.

Item Type: Thesis (PhD thesis)
Creators:
CreatorsEmailORCIDORCID Put Code
Wiengarn, Jörnjoern_wiengarn@web.deUNSPECIFIEDUNSPECIFIED
URN: urn:nbn:de:hbz:38-649581
Date: 2023
Language: German
Faculty: Faculty of Arts and Humanities
Divisions: Faculty of Arts and Humanities > Fächergruppe 8: Philosophie > Philosophisches Seminar
Subjects: Philosophy
Uncontrolled Keywords:
KeywordsLanguage
VertrauenUNSPECIFIED
ZeugenschaftUNSPECIFIED
AnerkennungUNSPECIFIED
SozialepistemologieUNSPECIFIED
VertrauenswürdigkeitUNSPECIFIED
Date of oral exam: 26 January 2022
Referee:
NameAcademic Title
Chwaszcza, ChristineProf. Dr.
Hinsch, WIlfriedProf. Dr.
Kaminksi, AndreasProf. Dr.
Refereed: Yes
URI: http://kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/64958

Downloads

Downloads per month over past year

Export

Actions (login required)

View Item View Item