Müller, Dirk
(2003).
Gesellschaft und Individuum um 1300 in volkssprachlicher franziskanischer Prosa.
PhD thesis, Universität zu Köln.
Abstract
Gegenstand der Arbeit sind Predigten und Traktatsammlungen in deutscher Sprache um Berthold von Regensburg und David von Augsburg, der �Baumgarten geistlicher Herzen�, Ordensregeln sowie der �Schwabenspiegel� samt seiner chronikalischen Einleitungen. Inhaltlich werden theologische Diskurse von Gesellschaft um 1300 n. Chr. untersucht, die introspektive Praktiken und somit Konzepte von Individualität ermöglichen konnten. Vor der inhaltlichen Analyse werden mit Blick auf die Überlieferungsgeschichte die Kategorien �Autorschaft� und �Authentizität� kritisch hinterfragt. Um die untersuchten volksprachlichen Predigten und Traktate in verschiedensten Redaktionen und Gebrauchszusammenhängen interpretieren zu können, wird von der Authentizität dieser Texte, also ihrer potentiellen Nähe zu lateinischen Texten Davids und Bertholds (oder gar tatsächlich gehaltenen Predigten), abgesehen. Wo sich die volkssprachlichen Bearbeitungen von den lateinischen Vorlagen entfernen, sind sie kaum von mutmaßlich authentischen Texten zu unterscheiden; ferner wurden authentische und nicht authentische Stücke zusammen überliefert und rezipiert. Im Rahmen der Arbeit wird die Kategorie der �Authentizität� für diese Gruppe volkssprachlicher Texte verworfen, von Autor-Werk-Kriterien, insbesondere biographischen (lebensweltlichen) Kriterien abgesehen und stattdessen die Frage nach den Intentionen einer anonymen Produktionsgemeinschaft von Literatur gestellt. Ausgangspunkt der inhaltlichen Analyse ist, auch jene monastische Gebrauchsprosa literaturwissenschaftlich und philosophiehistorisch ernstzunehmen, die sich z. B. mit der Einübung von Tugenden beschäftigte. Die Kapitel der Textanalyse zeigen, daß die untersuchten franziskanischen Texte für eine Laien-Oberschicht eine Reihe introspektiver Praktiken anboten, die zuvor nur in der lateinischen Literatur präsent waren und die eine Kontinuität lebenspraktischer Philosophien zwischen der Antike und ihrer späteren Wiederentdeckung in der Renaissance erkennen lassen. Genannt seien etwa die Praxis der Tugendübung bzw. Einübung von Tugenden oder Übungen in Gelassenheit. Das �Gutwerden�, als Zweck bei Aristoteles in der Nikomachischen Ethik formuliert, forderte Petrarca praktisch ein. Schon im 13. Jahrhundert zogen die Franziskaner (wie später die modernen Devoten) geistlichen Fortschritt dem analytisch-spekulativen Philosophieren vor. Diese Gegenbewegungen gingen zumeist einher mit radikalen Theoretisierungen des Philosophiebegriffs, etwa im frühen Mittelalter oder in der Scholastik. Die Bearbeiter der untersuchten Texte intendierten zudem, eine Reihe von Tugendbüchern zu schaffen, die versuchte, vor allem Laien der Oberschichten beiderlei Geschlechts stärker in die Gemeinschaft der Kirche einzubinden und am �Kampf� einer streitenden und schließlich triumphierenden Christenheit zu beteiligen. Diesem �Doppelgesicht� normativer Literatur mit den Seiten �Individualität� und �Ekklesiologie� wird am Ende der Arbeit Rechnung getragen. Ein Anhang versammelt kritisch die bekannten und neuen überlieferungeschichtlichen Erkenntnisse zu den recht komplexen Textkorpora. Eine Bibliographie zum Thema bildet den Abschluß.
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