Leclère, Thilo (2014). Silene. Weisheit, Sprichwort, Körper – Figurationen und Zusammenhänge in frühneuzeitlicher Literatur. PhD thesis, Universität zu Köln.
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Abstract
Mit dem grellen Aufleuchten der Körper in der europäischen Frühen Neuzeit treten zugleich Gestalten der Weisheit ins Schlaglicht. Aus dem zersplitternden Ineinander von Antike, Mittelalter und nachmittelalterlichen Formierungskräften entsteht ein frühmodernes Neuland der Nahtstellen, geprägt von einem Denken, das vorwärts und rückwärts zugleich strebt. Die damaligen Neubestimmungen und Wandlungen anthropologischer Paradigmen, philosophischer Denkweisen, religiöser Überzeugungen haben ihre Spuren tief bis in unsere heutige Welt gegraben. Noch ein Jahrhundert nach Erscheinen der „Theologia Platonica“ (1482) verehrt Giambattista Marino in Ficino den ‚Geheimkämmerer Gottes‘, dem es gelungen sei‚ ‚die schöne Weisheit nackt zu sehen‘. Längst schon haben jedoch auch die Gestalten einer hässlichen, verkehrten Weisheit zum Triumphzug auf der literarischen Bühne angesetzt: Unter der Patronage des ‚neuen Heiligen Grobian‘, den das 72. Kapitel von Brants „Narrenschiff“ aus der Taufe hebt, erobert der „Grobianer orden“ die Literatur. Den didaktischen Textmodus populärer Anstandsliteratur lässt der literarische Grobianismus, unter lautstarken Beteuerungen eines satirisch verfahrenden prodesse, in sein Gegenteil kippen. Statt Tadel: Lob des ‚mundus perversus‘. Das lustvolle Ausgießen der Latrine menschlicher Verhaltensweisen und Körperfunktionen wird zur ironischen Enkomiastik erklärt, deren Weisheit ihr ‚widerspil‘ sei. Der didaktische Spieß wird umgedreht und die traditionelle lehrhafte Spiegelfunktion des Buches zur Legitimationsformel eindeutig nicht mehr didaktischer Darstellungsinteressen: „Solt aber darumb ich oder ein anderer schumpfierboß […] ein Unflat seyn, weil wir villeicht euch und euers gleichen Unfläter unflätig beschrieben?“ fragt Fischart gleisnerisch – um seiner „Geschichtklitterung“, dem angeblich zwangsläufig „verwirrete[n] ungestalte[n] Muster der heut verwirrten ungestalten Welt“, die literarische Absolution zu erteilen. An allen Ecken und Enden eingelassen in das Gerüst dieser enorm ‚körperbetonten‘ Literatur sind Sprichwörter. In einer beispiellos sprichwortbegeisterten Epoche genießen sie höchste Wertschätzung bei der humanistischen Intelligenz und sind unentbehrliches Element der gelehrten Literatur. Die zeitgenössische Sprichwörterkunde vereint Philosophie und Rhetorik im Referenzrahmen christlicher Deutung. Von hier aus misst sie den Proverbien außerordentliche Wahrheitsautorität bei. Stellvertretend urteilt Sebastian Franck, dass „vnder allen leeren, menschen vrteylen vnd Sententzen nicht warers noch gewissers dann die Sprichwoerter“ seien. Sie gelten als änigmatische Tresore inneren Geheimnisses, „verschlossen kasten“, in denen „alle irrdische vnd ewige weißheyt eingelegt“ ist. Aus den ältesten Quellen geschöpft habe diese Weisheit, gut geschützt und sinnenfällig präsentiert durch den figürlichen proverbialen Sprachkörper, die Zeiten überdauern können. An der Spitze der damaligen Sprichwörterblüte steht, insbesondere durch seine „Adagia“, Erasmus von Rotterdam. Die frühneuzeitliche Kultur wird bestimmt von Formen heterokliter Kombinatorik und Assoziation, von Figuren ‚wilden‘ Denkens. In ihnen artikulieren sich die großen Spannungsbögen eines kulturellen Bewusstseins, das sich an den Polaritäten Schein und Sein, Weisheit und Torheit, Soma und Sema, Subjekt und Gesellschaft, Glaubenssubstanz und Glaubensform, heidnische Klassik und evangelische Frömmigkeit, Hermetismus und Exegese, Ordnung und Verkehrung abarbeitet. Einen narrativ wirksamen Ausdruck findet dieses Denken in der Silenfigur. Der platonische Silen bringt traditionelle Dualismen in die polare Einheit einer Figur. Kunsthandwerkliche Plastiken des mythologischen Mensch-Tier-Hybriden spielen eine Schlüsselrolle in Platons „Symposion“. Denn die Silenstatuetten haben etwas zu verbergen: eine Doppelnatur aus Schalenkörper und idealem Kern. Ihr innerer Hohlkörper dient der Aufbewahrung und, geöffnet, der Ausstellung von „Götterbildern“ (215b). So vergegenständlichen sie die Spezifik der Silenfigur: die Relation inverser Dualität, die beide Seiten so auseinander- und zusammenhält, dass das Innere in seinen Gegensatz verhüllt wird. Platon erst macht aus dem Silen ein begriffliches Bild-Konzept. Als Sprachbild bewahrt der Silen die räumliche Semantik der kunsthandwerklichen Darstellung. Im Begriff ‚Silenfigur‘ sind dingliche und sprachliche Natur dieses ‚Bildes‘ aufgehoben. Hiervon zeugt die ‚silenische‘ Gefäß- und Hüllenmetaphorik, in der die zugrundeliegende Denkform der Silenfigur sprachlich charakteristisch in Erscheinung tritt. Zu frühneuzeitlicher Wirksamkeit verhilft dem Silenkonzept in erster Linie Erasmus. Bei ihm und dann bei Sebastian Franck wird die Silenfigur zum Bildmodell der verkehrten Welt schlechthin. Der Rotterdamer Humanist kann er als derjenige gelten, der das Silenische als Narrativ wirksam in die Literatur um 1500 einführt, insbesondere durch das populäre Silen-Adagium „Sileni Alcibiadis“. Erasmus trifft mit seiner Adaption der platonischen Silenfigur einen Geschmacksnerv der Zeit – vor allem jedoch befriedigt er damit ein drängendes Ausdrucksbedürfnis des frühneuzeitlichen intellektuellen Vorstellungsraumes, der bild- und begriffstarke Formen des Dualen, des Kontrastiven, aber auch der Synthese und Hybridität benötigte, um die Flut des heterogen Zuhandenen gestaltbar zu machen. Die mythogene Silenfigur formiert sich in den Verwerfungen des epochalen Neulandes als ‚bricolage‘ von diskursiv und historisch verstreuten ‚Schätzen‘ des Denkens und der kulturellen Ereignisgeschichte. Ein an der traditionellen Rhetorik geschultes „integumentales Wahrheitsverständnis“ konturiert die Figura des Silens. Im Horizont der erasmischen Theoriebildung erkennt es in Sprichwörtern die wirkungsvollste Form der Weisheitsrede. Es geht um die Weisheit eines Sprachkörpers, der als Zweiheit von sprachmaterialem Integument und sublimem Sinn vorliegt. Von hier aus lässt sich das Proverbiale, in Analogie zur somatischen Verhüllung der intelligiblen Wahrheit in den Körperdingen, als das silenische Sprachgenre par excellence bestimmen. Der „Ulenspiegel“ demonstriert, wie charakteristische Schreibweisen silenischer, ‚klitternder‘ Hybridität aus der frühneuzeitlichen Schwellenkultur des Heterokliten entstehen. Nicht zufällig kommt es jetzt zu einer Blüte der offenen, aufnahmefähigen Sammlungsformen und Kompendien – insbesondere auch schwankhaften Erzählgutes, das sich vorzüglich zu Anlagerung und Adaption eignet. Von Eulenspiegel bis Simplicissimus agieren Narrengestalten in zahllosen Schwankhistorien und Satiren, Exempeln, Fastnachtspielen und Fazetien das Spektrum der Polaritäten aus. Sie werden zur Demonstrationsfläche von Konfrontation und Komplementarität. Der Narrentypus ist als Verkehrungsgestalt prädestiniert dazu, ein scharfes Schlaglicht auf die Schattenseite des Normativen zu werfen; aber auch ein Streiflicht, das beidseitig streut, denn er ist ein Grenzgänger. Diese Janusköpfigkeit wird als reflexive Mittlerfunktion in der intellektuell geschärften Eulenspiegel-Figur stark hervorgehoben. Seiltänzer auf den Trennlinien der dualen Ordnungsmuster, hält sie die polaren Elemente reflektierend auseinander und zusammen. Schon im Namen eine Kunstfigur, trägt er, der ‚Schalksnarr‘, den Spiegel immer bei sich. Anders als im einfach negativexemplarischen Narrentypus ist Eulenspiegels Negativität gedoppelt: Sie ist sie selber und verhüllt ihren Gegensatz – eine Weisheit, an der bisweilen tatsächlich mit Schaden Klugheit gewonnen werden kann. Den Sprachkörper seiner Opfer trennt Eulenspiegel hierzu mit artifizieller Naivität in Sagen und Meinen auf, bis der Redesinn nackt vor seinen Worthülsen steht. Eine ähnliche dislozierende Aufspaltung erlebt die ehemals geschlossene ethische Gestalt, deren schöner Körper, eingelassen in die Proportionalität der arthurischen adaequatio, Ausdruck weisheitlicher Tugend war. Die Körperinszenierungen des Protagonisten entlassen eine Weisheit, die Erkenntnis in Beschmutzung verbirgt. Außen roh und rätselhaft, innen reflexiv und richtungsweisend, ist die Eulenspiegel-Gestalt als Trägerfigur silenischer Dualität markiert, die in ein komplexes literarisches und ideengeschichtliches Bezugssystem einführt. Die vorliegenden Arbeit untersucht ausgehend von der Silenfigur das frühneuzeitliche Zusammenspiel von Weisheit, Sprichwort und Körper anhand von Leittexten der gelehrten Scherz- und Weisheitsliteratur. Die Figuration des Silens bestimmt dabei in zweifacher Hinsicht die Perspektive. Zum einen dient ihre motivgeschichtliche Tradition als Spur der relevanten Textbestände und als Ariadnefaden ihrer Erschließung. Zum anderen liefert die Konstellation des Silenischen eine Schnittstelle, an der die kulturellen Formierungskräfte frühneuzeitlichen Denkens gebündelt greifbar und komplex darstellbar werden. In der bezeichneten Literatur wächst daraus eine Engführung von Weisheits-Repräsentationen, parömial gesteuerten Sprach-Figuren und Körper-Bildern zu silenischen Schreibweisen, deren Nachweis die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist. Um von den Rändern dieser Konstellation in ihr Zentrum zu gelangen und damit über die periphere Behandlung von Teilaspekten hinauszugehen, die hiervon bisher vorliegen, musste ein neuer konzeptueller Zugang geschaffen werden. Die Kategorie des Silenischen leistet einen systematischen Einschnitt in das Nervengewebe der frühneuzeitlichen Kulturformation. Um das integrierende Zusammenspiel der drei Grundelemente Weisheit, Sprichwort und Körper entlang der Übergänge von Kunstwerk und Theorie kohärent hervortreten zu lassen, war es notwendig, eine künstlerische Kristallisationsfigur dieser epochalen Konstellation aufzufinden und als kulturhermeneutisch beschreibungstaugliches Modell neu zu formulieren. Sie liegt in der Silenfigur vor. Der untersuchte Textraum zeigt, wie Konzepte silenischer Dualität als (ent)moralisierendes Darstellungsprinzip ausgeschrieben werden. Dem Textgestus des ‚widerspil‘ liefert die Silenfigur, häufig im Zusammenspiel mit grobianischen Elementen, Formen belehrender Negativität. Der moralistische Spiegelreflex führt dabei jedoch zunehmend auf sich selbst zurück. Er wird zum Faszinosum, das den semiotischen Übertragungsreflex suspendiert. Der aufgebotene Sprachkörper und die imaginative Anschaulichkeit seines Körperthemas rücken in den Vordergrund, so dass die referentialisierende Repräsentationsbeziehung von einem faszinierten „Starren“ überlagert wird, das in der Präsenz des imaginativ und sprachmaterial Produzierten verharrt. Hiermit hängt der Erfolg eines literarischen Gestaltungsprinzips zusammen, dass sich in der silenischen Doppeltheit sowie in der Bildmacht proverbialer Textelemente eine Hauptquelle erschließt. Einer der stärksten narrativen Motoren frühneuzeitlicher Literatur ist die Textproduktion auf der Grundlage metaphorischer Sprachelemente, deren Struktur sich als silenisch charakterisieren lässt. Die verdichtete Metaphorizität, die sie binden, wird, etwa durch das Wörtlichnehmen von Metaphern, in Handlung aufgelöst: die Silenfigur ‚erzählt‘ Geschichten. Die narrative Gestaltung des „Ulenspiegel“ durch die metaphorische Inversion sprichwörtlicher Elemente, ebenso der Textwuchs des „Gargantua“ aus der fabulierenden Ambivalenz seiner grotesken Körpermotive sind Werkstücke ihrer Faktur. Für solches Erzählen aus silenischer Figuralität führt die vorliegende Arbeit den Begriff der „silenischen Narration“ ein. Damit ist ein bestimmendes Erzählprinzip frühneuzeitlicher Literatur benannt.
Item Type: | Thesis (PhD thesis) | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Creators: |
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URN: | urn:nbn:de:hbz:38-57349 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Date: | 17 April 2014 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Publisher: | München: Hut | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
ISBN: | 978-3-8439-1860-2 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Language: | German | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Faculty: | Faculty of Arts and Humanities | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Divisions: | Ehemalige Fakultäten, Institute, Seminare > Faculty of Arts and Humanities > Institut für Deutsche Sprache und Literatur mit volkskundlicher Abteilung | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Subjects: | Library and information sciences Philosophy Christian theology Germanic Italic Latin The arts Geography and history |
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Uncontrolled Keywords: |
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Date of oral exam: | 2 July 2014 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Referee: |
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Refereed: | Yes | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
URI: | http://kups.ub.uni-koeln.de/id/eprint/5734 |
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